MEIN ERSTER URLAUB OHNE DOSENRAVIOLI #2 - Mit Thilo Mischke auf seiner ersten Dienstreise nach London

Als ich vierundzwanzig Jahre alt war, hatte ich noch seltsame Haare. Meine Mutter schnitt sie mir mit einer Geflügelschere. Nicht etwa um Geld zu sparen, sondern weil es ein mütterliches Gefühl erhielt, dem erwachsenen Jungen die Haare zu schneiden. Ich war vierundzwanzig, etwas dicklich und hatte unfrisierte Haare als ich meine erste Dienstreise machen sollte.

Ich betone, dass es meine erste Dienstreise war, weil ich vorher schon ordentlich unterwegs gewesen bin. Jedes Geld, dass ich nicht hatte, wurde in exotische Reisen investiert, habe Thailand noch erlebt als es auf öffentlichen Plätzen mehr Leprakranke als deutsche Touristinnen gab. Durfte mit meinem besten Freund Robert, der ein erfahrener Billigflieger ist und für 99 Euro nach Florida fliegt, Marokko und die Westsahara sehen. Sind gemeinsam auf Kamelen heimlich bis an die libysche Grenze gegangen als Gaddafi noch Zelte in Paris aufschlagen durfte. Ich wusste, was es bedeutet zu reisen und hatte bis zu meiner ersten Dienstreise auch schon eine erschreckende, kosmopolitische Arroganz entwickelt.

Meine erste Dienstreise begann an einem Mittwoch vor sieben Jahren. Ich arbeitete in Hamburg bei einem Magazin für Videospiele, das zwar schön gemacht war, aber deswegen von niemandem gelesen wurde. Es war mein erster Job, es war meine erste Redaktion und ich war aufgeregt. So war ich doch Repräsentant dieses Videospielmagazins.
In der Nacht zuvor habe ich wach gelegen und mich gefreut, weil Dienstreisen für mich etwas sehr erwachsenes hatten. Dienstreisende waren diejenigen, die im Flugzeug das Handelsblatt lesen, die in der engen Economyclass mit überschlagenen Beinen und sichtbaren Socken saßen. Ich wollte das nie, wollte aber bezahlt werden dafür, dass ich reise und die Welt sehen durfte.
Drei Tage London. Das ist nicht weit weg gewesen, aber mir wurde ein auffälliges Hotel gestellt und ich konnte Spesen machen. Also mit dem Taxi für 50 Pfund vom Flughafen fahren. Ich durfte damals noch im Taxi rauchen und habe das auch getan, auffällig viel, so dass der Fahrer keine Fragen mehr zu Berlin und Hamburg stellte, sondern die kleine Trennscheibe zuzog. Ich mochte London nicht, noch nie. Bis heute nicht. Eine teure Stadt, die ärmlich ist. Die schmutzige Gehsteige hat und Menschen, die so erschöpft sind, dass ihre Popel am Nasenloch trocknen. London-das sind für mich erschöpfte Gesichter, erschöpfte Geschäftsleute und Menschen mit gefährlich schiefen Zähnen, die nachts besoffen und müde aus den Pubs fallen, in ihre Betten oder sich in Schlägereien wiederfinden.

Ich habe die Faszination dieser Stadt nie verstanden und auch nicht, warum ich diese Stadt mögen sollte, wenn ich britische Musik mag. Die Stadt ist nicht britisch, sie ist kühl und abweisend und unhöflich. Briten sind kühl und höflich.

Es lief Loungemusik, so wie das vor sieben Jahren eben war, als ich zum ersten Mal mit einer Visitenkarte in einem Hotel eincheckte. Kein Handeln um den Preis, keine gespielte Erschöpfung. Alles lief von alleine. Die Loungemusik und das Gefühl, dass wir alle in der Zukunft leben. Es ist ein neues Jahrtausend, die Finanzkrise schon da, aber niemand hat sie bemerkt. Den Menschen ging es gut, die Welt funktionierte. Und weil eine Welt ohne Probleme belanglos ist, war Loungemusik das, was früher in Hotellobbys gespielt wurde. WLAN war noch etwas befremdliches und Smartphones gab es noch nicht.

Wenn ich mich daran erinnere, dann fühlt sich das an, als hätte ich eine Reise zu Zeiten des transatlantischen Kabels gemacht. Mit Zylinder und Gehstock den Ärmelkanal überqueren.

Die Welt war noch nicht so weit, dass es normal ist, der Freundin ein Nacktbild aus dem Hotelbadezimmer zu schicken, den Freunden Videos von kotzenden Engländern und den Eltern Bilder vom Big Ben. Damals verabredete ich mich mit meiner Freundin, um über ein Festnetztelefon mit ihr zu telefonieren. Sie sorgte sich, dass ich mit einer Kollegin schlafen könne, und ich wollte sie beruhigen. Betonte, dass ich für ein Videospielmagazin arbeite. Da gäbe es keine Kolleginnen. Nirgendwo. Frauen arbeiteten damals in Berlin, für MTV.
Die Pressesprecher stellten sich später am Abend vor. Wir schüttelten uns die Hand. Und ich wurde gemustert, weil ich jung war. Und vielleicht auch wegen meiner seltsamen Frisur und meiner feisten Wangen. Dann tranken wir Cocktails und es gab Sushi als Fingerfood. Ich fühlte mich so erwachsen und auch schnell sehr betrunken und erst später sollte ich lernen, dass Sushi als Fingerfood ganz normal war. Und Alkohol umsonst, damit die Erinnerungen an die immer gleichen Pressereisen gelöscht würden. Ich redete mir ein, mit lallender geistiger Stimme, dass mich diese Reisen nicht verändern dürften. Und auch das lernte ich erst viel später: es kann dich nicht verändern, weil es nicht deine Erfahrungen sind. Pressereisen, Geschäftsreisen, Dienstreisen, sind keine Reisen. Weil sie vorbestimmen, was du erlebst, weil es kein Entkommen aus den Vorstellungen der Organisatoren dieser Reise gibt. Es ist wie Cluburlaub in Haiti. Niemand kommt auf die Idee hinter den Stacheldrahtzaun zu blicken, um festzustellen, dass die Welt da draußen anders ist als hier drinnen. Dienstreisen sind wie Urlaub auf dem Geländer der deutschen Botschaft im Ausland.
„Ihr müsst früh raus“, sagte ein Pressevertreter als wir alle betrunken waren und trotzdem nur über gute und schlechte Videospiele sprachen und darüber, dass Sony der beschissenste Konzern von allen sei. Wir erzählten uns Geschichte, als wären wir im Krieg. Das gefiel mir, weil meine Kollegen weit über dreißig waren, also irgendwie meine Eltern. Aber sie haben mich ernst genommen und waren an meiner Meinung interessiert. Und so trank ich noch mehr Cocktails mit Früchten am Glasrand. Weil es die teuersten auf der Karte waren und ich kein Bier trinke.

Wir verabschiedeten uns höflich. Gingen auf unsere Zimmer, ich hatte ein Apartment und legte mich in die frisch gemachte Bettwäsche, die in Hotels immer ein wenig steif ist. Immer ein wenig zu sauber. Durch fremde Hotelzimmer zu gehen, barfuß, zu spüren, dass es fremde Teppiche sind, die sich durch meine Zehen drängen, die Minibar austrinken, und einen 4 Pfund teuren Snickers essen. Das ist Dienstreise. Bis heute. Das mache ich heute noch. Und damals, war ich stolz. Weil ich wusste, dass jemand wollte, dass ich hier bin. Erst später lernte ich, dass die meisten Journalisten keine Lust mehr auf Dienstreisen haben, weil sie doch immer gleich sind. Und deswegen durfte ich da sein.

Ich schlief ein, und lies die Firma die uns einlud, einen Porno bezahlen.

Ich wurde geweckt, weil mein Telefon klingelte. Es war Donnerstag im Juli, die Sonne schien in mein Zimmer und wärmte den Teppich auf.
„Mach mal den Fernseher an“, sagte meine Freundin.
„Wie hast du die Nummer vom Hotel herausbekommen“, fragte ich zurück.
„Habe in der Redaktion angerufen“, sie war weinerlich.
„Ist was passiert?“, wollte ich wissen.
„Mach den Fernseher an.“ Der Fernseher ging an und es liefen Nachrichten.
Ich sah den U-Bahnhof vor meinem Hotel, es brannte offensichtlich ein Feuer. Schwarzer Qualm stieg auf. Die neonfarbenen, englischen Polizisten sperrten etwas ab. Ich konnte nicht erkennen was. Menschen waren nicht mehr erschöpft, sondern ohne Idee. Sie hatte die leeren Gesichter, die ich schon aus den Aufnahmen vom 11. September kannte.

„Huch“, sagte ich. Immer noch das Telefon am Ohr. Dann weinte meine Freundin.
„Geht es dir gut?“, wollte sie wissen.
„Ja, ich habe einen Porno geguckt und bis jetzt geschlafen“, es war halb neun. Halb zehn bei meiner Freundin. Ich sah auf mein Handy, dass lautlos war und damals waren Handys wirklich noch lautlos, also ohne Vibration. Meine Eltern haben angerufen, die Redaktion nicht. Über zwanzig Anrufe in Abwesenheit. Und ich konnte nicht zurückrufen. Das Netz war überlastet. Ich zog mich an, ungeduscht und vergaß den Teppich.

In der Lobby aufgeregte Videospieljournalisten, keine Loungemusik mehr. Es fiel ein gefährliches Wort. „Evakuierung, sie werden jetzt evakuiert.“, sagte einer der Pressemenschen. Ich wollte rauchen, ging vor die Tür, und sah London. Sonnig und warm, es war freundlich, weil die Menschen abgelenkt waren von ihrer Berufen und den Identitäten für den Tag. Und ich war fasziniert. Ich konnte nicht aufhören hinzusehen, die Situation zu verinnerlichen.

Irgendwo in der Stadt explodierte ein Bus. Ich konnte es nicht hören.

Die Dienstreise sollte bis Freitag gehen, aber sie wurde beendet. Ich hatte kein Geld mehr, die Automaten funktionierten nicht. 17 Zigaretten und einen Pfund, das schwer in meiner Hosentasche lag. Ich lief durch die Straßen. Viele Menschen weinten, stützten sich. Die U-Bahn fuhr nicht, die Busse auch nicht mehr. Die Taxen waren voll. Alle bewegten sich ausserhalb von Gebäuden. Ich erreichte meine Eltern, beruhigte meine weinende Mutter. Ich käme heute Abend zurück nach Berlin. Nicht nach Hamburg.

Am Flughafen durften wir nicht an Glasscheiben entlang laufen, es war schwierig, weil der Flughafen viel Glas hatte. Die Menschen hatten Angst, dass eine Bombe explodieren würde. Moslems wurden bespuckt. Und ich stand hinter ihnen. Sie wollten nach Hause, wie ich.

Erst im Flugzeug, erst als ich auf der kleinen Karte am Ende der Kabine sah, dass wir Frankreichs Luftraum erreicht haben, fühlte ich mich sicher.

Und geweint habe ich erst, als ich abgeholt wurde.

Thilo Mischke (Text) arbeitet als freier Journalist, entwickelt TV Formate, schreibt Bücher über Sex und generell kaum noch über Videospiele. Thilo lebt in Berlin.

Conny Dreher (Illustration) hat nicht nur das Cover von Thilo Mischkes Buch "In 80 Frauen um die Welt" illustiert, sie macht auch coole Anziehsachen und malt in ihrer Freizeit gerne Juden.

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