ARTVERGNÜGEN #50 Wir wissen, er war's. Zur Ausstellung CHRISTOPH SCHLINGENSIEF.

© André C. Hercher

"Für mich ist es sehr schön jetzt im Ausstellungsraum zu sein, weil dieser Ort eben tatsächlich von diesem Theatralischen auch wegholt. Ich bin hier nicht im Bild, ich muss hier auch nicht spielen, ich will hier auch nicht spielen, es ist etwas passiert, das wird gezeigt. Das gibt es ja nun in der bildenden Kunst öfter und es kann auch so gezeigt werden, dass der Betrachter damit sogar selber anfängt zu spielen. Und das ist doch das Größte." (Christoph Schlingensief) - Anlässlich der Ausstellung "CHRISTOPH SCHLINGENSIEF" in den Kunst-Werken haben wir einige Menschen gefragt, wo sie ihn behalten haben und welche Frage von ihm unbeantwortet blieb.

Zum ersten Mal begegneten wir uns in einer Kirche. Post mortem. So ist das häufig. Zuvor abgelegt als Künstler, zu dem ich keinen Zugang finden würde, fand ich mich 2011 im deutschen Pavillon der Venedig Biennale, geschockt. Ich wollte das nicht sehen, die Symbole des Todes, Röntgenaufnahmen eines vom Krebs Befallenen. Die Vergänglichkeit zu deutlich vor Augen geführt. Selbstschützend ließ ich ihn ruhen. Dann griff ich zu seiner Biografie „Ich weiß, ich war's“. Das Buch zeigte mir den Menschen hinter dem scheinbar Wahnsinnigen. Ich war amüsiert, entsetzt, gerührt, sah einen kleinen Jungen, den Experimentierer, den die Welt nicht Verstehenden, den Verzweifelten, den Unersättlichen.

Dann finde ich mich zwei Jahre später bei der Pressekonferenz im KW wieder, wo so schöne und lustige Dinge über den erzählt werden, dem diese Ausstellung gewidmet ist. Jetzt sitze ich hier vor meinem Rechner und warte auf Mails von Menschen, die ihm einst begegnet sind oder eine bleibende Begegnung mit seinen Aktionen, Videos, TV Shows hatten. Und es ergibt sich nach und nach ein ganz wundervolles Bild von Christoph Schlingensief.

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Unsere Ausgangsfragen waren:
Woran denkst du bei Schlingensief?
Welche Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben?

Bei Betreten der „Church of Fear“ im Hof des KW rief sich mir Jan Kage sofort wieder in Erinnerung. Schlingensiefs Kirche, die Gestalt gewordene Kritik autoritärer Institutionen, die sich der Waffen der Angstmacherei bedienen, wurde 2003 erstmals auf der Venedig Biennale aufgebaut. Beim Berlin Festival schlüpfte Jan für die „Church of Phonk“ (wir berichteten im Artvergnügen #43) in eine Priesterkutte.

Also Jan, woran denkst du bei Christoph Schlingensief? „An einen guten Menschen.“ Und welche Frage blieb bis heute unbeantwortet? „Wer tötet Helmut Kohl?“

Es widerspricht sich nicht, einen, der zum Mord aufruft – und übrigens in der Folge 1997 auf der Documenta verhaftet wurde – als guten Menschen zu empfinden. Nach den Beweggründen seiner Aktion befragt, antwortet Schlingensief, dass er den damaligen Kanzler dadurch vor eben diesem Schicksal bewahrte. „Wenn ich sage ,Tötet Helmut Kohl’, bewahre ich ihn davor, weil ich das Bild ausspreche.“ Der beteiligte Schauspieler Bernhard Schütz ergänzte: „Mit unserer Performance wollten wir insgesamt zu Dingen aufrufen, die man sich nicht traut.“ Mir erschließt sich das nur mäßig, gebe ich zu.

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Hedi, die Hospitantin und Abendspielleitung bei Schlingensiefs „Kunst und Gemüse“ (2004) an der Volksbühne sowie persönliche Assistentin war, empfindet Dankbarkeit. „Du hast mich zum Schreiben und zum Wahnsinn gebracht und mich vor allem Humanitätärätätät gelehrt“.

Der Galerist Volker Diehl schreibt von einem unvergesslichen Erlebnis zu Christoph Schlingensief: „Ich war damals in seinem ersten Theaterstück an der Volksbühne. "Europa 2000". Den Titel hat er später geändert; muss 1993 +/- gewesen sein. Ich war so begeistert, dass ich zehn Tickets gekauft und Freunde eingeladen habe. Ich fand das Stück beim zweiten Mal noch besser. Aber ich musste mich hinterher von einigen meiner Freunde beschimpfen lassen. Ob ich sie auf den Arm nehmen wolle.“ Volker Diehls Bande zu Schlingensief brach bis heute nicht ab: Seine Tochter bereitet als kuratorische Assistentin am PS1, unter der Leitung von Klaus Biesenbach, momentan den Umzug der Ausstellung von Berlin nach New York vor.

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Marcel Schwierin, Filmemacher, Herausgeber von cinovoid, einer Datenbank für Experimentalfilm und Videokunst, sowie Kurator für die Werkleitz Biennale Halle, die transmediale sowie die Arab Shots, denkt bei Schlingensief „an die Lichtführung mit einem Handscheinwerfer in '100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker' (1988/89). In meiner Erinnerung waren die Darsteller mal ausgeleuchtet, mal auch nicht. Das Licht schien eine Art Eigenleben zu führen.“ Diese amateurhafte Improvisation begleitete viele von Schlingensiefs Filmen. „Eigentlich wollte Christoph nach Hollywood, aber dann war bei den Filmen an der Filmhochschule plötzlich was anderes im Bild oder es brannte der Film durch“, plaudert Schlingensiefs Frau Aino Laberenz aus dem Kästchen. Hätte Marcel die Möglichkeit, dem grenzenlos ambitionierten aber nicht unbedingt professionellen Christoph eine Frage zu stellen, wäre diese, „ob er ganz am Ende seines Lebens das Gefühl hatte, dass sich das alles gelohnt hat".

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Und Tucké Royale, was löst der Name Schlingensief bei dir aus?
„Bei Schlingensief denke ich automatisch an seine Idee der Beschleunigung, an seine Neugierde Formen und Gestaltung gegenüber, die inbegriffene Selbstüberforderung und daran, dass er dieses Deutschland so schön durch den Kakao gezogen hat.“ Und was wäre deine Frage an ihn? „Eigentlich nichts - ich hätte gern gesehen, was er noch gemacht hätte oder wäre gern mit ihm ein Bier trinken gegangen.“ Am 20.12. feiert Tuckés Stück „Ich beiße mir auf die Zunge und frühstücke den Belag, den meine Rabeneltern mir hinterließen“ Premiere im Ballhaus Ost.

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Der Titel des Stücks rückt mir auch gleich wieder die Genialität von Schlingensiefs Werktiteln in Erinnerung: „ATTA ATTA - Die Kunst ist ausgebrochen“, „MEIN FILZ, MEIN FETT, MEIN HASE“, „Bitte liebt Österreich“, „Die 120 Tage von Bottrop“ und „Volles Karacho Rohr“.

Doch Christoph Schlingensief bleibt ein Künstler, dessen Bild sich nur nach und nach zusammenfügt. Vieles bleibt zu entdecken und wohl auch unbeantwortet: Ein spannendes Erbe, dem wir versuchen können näherzukommen.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF im KW Institute for Contemporary Art
Bis 19. Januar
Auguststraße 69, Berlin-Mitte
Mittwoch – Montag 12-19 Uhr
Donnerstag 12-21 Uhr
Dienstag geschlossen
Eintritt: 4–6 €

Wir danken André C. Hercher für die Bilder. Das Titelfoto zeigt Schlingensief bei einer Ausstellung 2008. Darunter in gezeigter Reihenfolge Schlingensief im Radialsystem 2010, bei einer Premiere im Mauersegler, mit Hildegard Knef und darunter Beate Uhse in der Volksbühne 1997 sowie mit Sabine Christiansen im Studio Babelsberg.

Alle Folgen Artvergnügen findet ihr hier. Die Übersicht zu unseren Kunstempfehlungen im Dezember gibt es ebenfalls.

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