Der Hauswächter

© Benedikt Crone

Wenn Christian Weber seinen Mitbewohner besuchen will, muss er durch ein Labyrinth aus langen Gängen, vorbei an Holzstühlen, kleinen Schreibtischen und Plastikmülleimern. Er passiert leere Vitrinen, einsame Kinderzeichnungen an Backsteinwänden und Toilettentüren mit der Aufschrift ‚Garçons’ und ‚Filles’. Die Luft riecht nach deutscher Bildungsarchitektur der 60er Jahre: etwas muffig, nach Staub und alten PVC-Böden.

Weber ist fünfzig und wieder in einer Schule. Nicht als Schüler oder Lehrer: Als Hauswächter bewohnt der Frührentner eine ehemalige deutsch-französische Privatschule in Berlin-Reinickendorf. Ganze 22.000 Quadratmeter Nutzfläche teilt sich Christian Weber mit einem Studenten. Das niederländische Unternehmen Camelot vermittelt sogenannte Hauswächter an Immobilienbesitzer, um deren Eigentum – ob Schule, Villa oder Krankenhaus – vor ungebetenen Gästen zu schützen. „Erst werfen Jugendliche Steine, dann klettern Leute ins Gebäude und am Ende reißen Einbrecher die Kupferdrähte aus den Wänden“, beschreibt Weber das übliche Schicksal eines verlassenen Gebäudes. „Hier ist das noch nicht passiert, kein einziger Einbruch.“

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180 Euro Nutzungsgebühr zahlen die Hauswächter für ihr extravagantes Zuhause – und müssen sich an eine Hausordnung wie in einer Jugendherberge halten: Rauchen, Kerzen, Haustiere und Partys sind in den Räumen verboten. Auch dürfen keine Gäste hier übernachten und wenn Hauswächter länger verreisen, müssen sie es Camelot mitteilen. Dazu hat man Pflichten zu befolgen: die Räume in Ordnung halten, Rauchmelder, Lichter und Heizungen kontrollieren und bei Ein- oder Rohrbruch umgehend die Firma kontaktieren.

Christian Weber empfindet die Aufgaben nicht als Last. „Das Leben hier ist ein Abenteuer“, sagt er und schätzt sich glücklich, dass er sich in dem geräumigen Rektorenhaus der Schule einrichten konnte. In den restlichen Gebäuden lebten im letzten Jahr neben seinem Mitbewohner noch 20 andere Wächter. Sie brachten Möbel mit, machten aus Klassenräumen ihre persönlichen Wohnzimmer und Künstlerateliers. Sie schliefen unter Tafeln und wuschen sich in einer Kabine der Mädchentoilette, die zu einer Dusche umgebaut wurde. In einer Ecke der Schule steht ein Skateboard, das Webers Mitbewohner benutzt, um die Wege über die endlosen Gänge abzukürzen.

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Heute ist ein Teil des Gebäudekomplexes von einem privaten Kindergarten wiederbelebt. Die Hauswächter, die dort wohnten, mussten ihr Zuhause räumen. Auch für die restlichen Teile der Schule plant der Besitzer einen internationalen Jugendtreff, „eine Art Jugendherberge“, sagt Weber. Der Frührentner ist überzeugt von dem Hauswächterkonzept: nicht nur Gebäude würden erhalten bleiben, auch Wohnraum werde erschlossen. Wie lange er hier selbst wohnen bleibt, kann er allerdings nicht sagen. Wenn Camelot will, kann die Firma ihm mit einer Frist von vier Wochen ohne Angabe von Gründen kündigen.

Auf dem Weg von der Schule zur naheliegenden S-Bahn-Station passiert man das, was Weber das „Kontrastgebäude“ nennt: ein ehemaliges Einkaufszentrum. Der graue Baukomplex sieht aus wie ein Raumschiff, das einst unbemerkt in der Stille der Wohnsiedlung landete und kurz darauf in einen Dornröschenschlaf fiel. Seit Jahren steht das Einkaufszentrum leer, von Graffiti übersät, ungenutzt und scheinbar ohne Zukunft. Ohne die Bewachung, davon ist Weber überzeugt, hätte dieses Schicksal auch ‚seine’ Schule treffen können.

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Benedikt Crone ist Redakteur bei Stadtaspekte, dem neuen Magazin für städtische Phänomene. Stadtaspekte berichtet von der Stadt am anderen Ende der Welt - und vom anderen Ende der eigenen Stadt. Der Text ist auch in der aktuellen Ausgabe des Magazins zu finden. Danke, Benedikt.

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