Arbeit und Struktur – Zum neuen Buch von Wolfgang Herrndorf

"Jeden Abend der gleiche Kampf. Laß mich gehen, nein, laß mich gehen, nein. Laß mich." – Ich werde eine Weile brauchen, um Wolfgang Herrndorfs Buch in die Hand nehmen und einfach darin blättern zu können. Gerade ist 'Arbeit und Struktur' erschienen, sein quasi ausgedrucktes Blog. Als Wolfgang Herrndorf bloggte, wusste er, dass er eine Krankheit hat, bei der es schwer wird, ihr aus dem Weg zu gehen. Ihm war klar, dass er schneller sterben würde als andere, und publizierte diese Gedanken und damit auch Episoden, die drumherum passierten. Die Welt hört ja nicht einfach auf. Er schrieb auch dann noch, als er schon über vieles die Kontrolle verloren hatte.

'In Plüschgewittern' und 'Tschick' gehörten zu meinen Mittzwanzigern. 'Sand' habe ich übersprungen, 'Arbeit und Struktur' ist sein Buch kurz vor meiner 30. Sein letztes. Die Diagnose des bösartigen Hirntumors bekam Herrndorf im Februar 2010, im August 2013 hat er sich das Leben genommen. Dreieinhalb Jahre, die von Kathrin Passig, einer engen Freundin von Herrndorf und dem Lektor Marcus Gärtner, zusammengefasst und kurz kommentiert wurden. Wie es sich anfühlen muss, einen literarischen Nachlass zu verwalten, in dem man selbst vorkommt?

Mit 'Arbeit und Struktur' hat Herrndorf sein Werk geschaffen, das sich jetzt schon umgezogen hat und etwas anderes geworden ist. Es ist ein Unterschied, ob man etwas von jemandem liest, der das morgen einfach so fortsetzen könnte. Ob es ein Blog ist, den Brief oder eine Nachricht. Etwas von jemandem lesen, der einfach weiterschreiben, ersetzen, löschen, umformen könnte, wie er will. Das wird Wolfgang Herrndorf nicht mehr tun. Man liest etwas anders, von dem man erwartet, dass es weitergehen kann, bei dem es immer irgendwo noch die Möglichkeit einer Überraschung, einer Wendung, einer Lösung gibt.

Herrndorfs Blog ist nun gedruckt, irgendwie unveränderbar auf Buchseiten. Und deswegen glaube ich, muss man beide Publikationen nicht als dieselbe begreifen. Das eine ist sein Blog, das nun nicht mehr aktualisiert wird, jedenfalls nicht von ihm. Das andere ist das dadurch entstandene Buch, abgeschlossen durch seine Form, nicht durch die Umstände Zeit oder Lebendigkeit. Die Hoffnung, die man beim Lesen des Blogs irgendwo noch hatte, wird beim Buch von vornherein ins Fantastische gezogen. Man weißt schon, dass es am Ende nicht mehr gut wird, weil man das Buch in den Händen hält, damit das Ende kennt. Das macht das Buch zu einem Dokument.

Beim Lesen des Blogs wusste man nie, was passiert, ob es nicht vielleicht doch noch anders und Herrndorfs leichtere Sprache zurückkommt. Eine andere Hoffnung. Und die Darreichungsform bestimmt bei Herrendorfs Werk auch den Zugang. Wer den Moment verpasst hat, in dem der Feedreader einem einen neuen Blogbeitrag von Herrndorf ankündigte und man sich selbst dabei ertappte, kurz erleichtert aufzuatmen, kann diesen nicht nachholen. Den gibt es nicht zu kaufen.

(Und ein Blog an sich wiegt nichts, man kann es nicht in die Hand nehmen und herumtragen, nur das Handy, auf dem man es sich vielleicht anzeigen lässt. Ein Buch liegt einem in der Tasche, durch die man sein Gewicht im Bus auf dem Schoß spüren kann.)

Was ich mir für ihn und seine Geschichten, all die Bücher, die zusätzlich nun von ihm da draußen herumwandern, wünsche, sind Notizen. An Ränder gekritzelt, einfach nur gedacht oder von mir aus in Notizapplikationen eingetippt. Ich wünsche mir, dass die Annäherung an seine Worte nicht aufhört, an seine Figuren und Geschichten und dass seine Krankheitsgeschichte nicht nur das ist, was die Menschen in Erinnerung behalten sondern wie er mit Worten war. Und dass er sich verdammt noch mal getraut hat, in so einer privaten Zeit wie dem Durchleben einer Krankheit zu schreiben. Und das so, dass alle sehen können, wie er nach und nach sich selbst entgleitet.

Welch ein Erzähler, so viel Mut.

'Arbeit und Struktur' ist am 6.12.2013 bei Rowohlt erschienen und kostet 19,90 Euro.

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